… über die Rietzschke, Kohl, Goethe und Napoleon

[Im Neustädter Markt Journal, Heft Juni und September 1995 erschienen.]

Historisches über die Rietzschke

Rietzschke.1860

die Rietzschke auf einem Leipziger Stadtplan, um 1860

Wo soll denn hier eine ,,Rietzschke“ fließen?

Einem aufmerksamen Betrachter des Leipziger Stadtplans fällt der merkwürdig gewundene Verlauf von Wurzner und Kohlgartenstraße, dem Rabet und dem unteren Teil der Hermann-Liebmann-Straße auf. Der Straßenverlauf entspricht der Lage der alten, durchschnittlich 200 Meter breiten Rietzschkenaue. Unbebaute Talreste sind noch heute der Elsapark, das Gebiet am Bernhardiplatz und natürlich der teilweise sichtbare Bachlauf zwischen Zuckelhausen und Sellerhausen im Leipziger Osten.
Wegen zwar aufwendiger, aber zum Teil unsachgemäßer Verrohrung der Rietzschke sind heute viele Kleingärten im Bereich der Kleingartensparte ,,Rietzschkenaue“ (Sellerhausen) überflutet.
Auch so manche feuchte Keller in den Häusern eingangs der Eisenbahnstraße oder der Konstantinstraße erinnern heute noch an die Nähe zum einstigen Rietzschketal.

Postkarten-Bild von der Straße "An der Rietzschke" um 1900

„An der Rietzschke“ um 1910

Im Straßenbild des Leipziger Ostens erinnert an den Bachlauf noch die alte Straßenbezeichnung ,,An der Rietzschke“, hier auf einem Postkartenfoto, um 1910 aufgenommen.

Die Rietzschke bildete bis ins 19. Jahmundert eine natürliche südliche Grenze des umfangreichen Schönefelder Gutsbesitzes. Ab Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden auf zwei dieser Feldparzellen, Nr.180 und Nr.181, die ersten Wohnhäuser der späteren Gemeinden von Neuschönefeld (1840) und Neustadt (1866).

Zwischen Rietzschke und Parthe siedelten aber bereits in vorgeschichtlicher Zeit, wie Funde in Reudnitz und im Mariannenpark belegen (Steingeräte, Urnen), erste Menschen. Reste slawischer Siedlungen weisen auf dauerhafte Besiedlungen der Leipziger Umgebung ab dem 6. Jahrhundert hin. Auch auf Neustädter Gebiet konnten Reste slawischer Ansiedlungen, allerdings ohne Wallanlagen, aufgedeckt werden. Die ersten Bewohner lebten auch vom Fischfang in den damals noch fischreichen Gewässern der Rietzschke und Parthe.

Die ersten Spuren der heute noch im Leipziger Raum sichtbaren Siedlungsstrukturen lassen sich auf den Landesausbau im 11./12. Jahrhundert zurückführen. Besonders an den Fluß- und Bachläufen entstanden erste Orte oder wurden bereits vorhandene slawische Ansiedlungen ausgebaut. Da es über diese Besiedlung bisher keine Gesamtdarstellung gibt, habe ich aus mehreren Literaturquellen (Müller, Platen, Richter u. a.) eine Übersichtsskizze in diesem Zeitraum zusammengestellt.

Hist-55

Interessant für die heutigen Wohngebiete von Neustadt und Neuschönefeld ist dabei der zeitweise nahe Verlauf der Niederen Straße zwischen Leipzig und Schönefeld.
Sie verlief etwa im Zuge der heutigen Rosa-Luxemburg-Straße, mit einer Rietzschke-Überquerung kurz nach der Kreuzung Eisenbahnstraße, weiter über den heutigen Stannebeinplatz bis zu einer wahrscheinlichen Burg an der Ecke Ossietzky/Gorkistraße nach Schönefeld. Herr Wohlrath aus Schönefeld hat in regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen oft das Flurstück ,,die Burg(k)“ in Schönefeld erwähnt. Fazit: die älteste Straße im NeustadtlNeuschönefelder Gebiet ist weder die Eisenbahn- noch die Kohlgartenstraße, die ja auch auf Reudnitzer Gebiet liegt, sondern der ursprüngliche Straßenzug der Luxemburgstraße!

Am Rietzschke-Ufer entstanden die ersten Ortschaften im 12. bis 14. Jahrhundert: Reudnitz, Volkmarsdorf, Sellerhausen, Stünz, Mölkau, Zweinaundorf und Zuckelhausen.

Einige ältere Straßennamen im Leipziger Osten scheinen aus heutige Sicht in ihrer Bedeutung völlig beziehungslos zu sein, zum Beispiel Kohlgartenstraße, Kuchengartenstraße, Rabet und die Straße An der Rietzschke. Eine kleine historische Recherche bringt aber, wie der Leser sehen wird, Erstaunliches über diese Gegend zu Tage.

Für die Versorgung der Handels- und Messestadt Leipzig waren schon früh die nahegelegenen Dörfer von großer Bedeutung. Das galt besonders für die östlich der Stadt in und an der fruchtbaren Rietzschkenaue entstandenen Anbaufelder mit Obst und Gemüse, die sogenannten ,,Kohlgärten“. Spätestens ab dem 17./18. Jahrhundert wurde diese Gegend für die Leipziger Bürger, Studenten und Gäste auch zu einem beliebten Ausflugsziel vor den Toren der Stadt.
In Messezeiten mußten die Leipziger Studenten oft ihre Stadtquartiere räumen und mit Ausweichunterkünften in den umliegenden Dörfern vorlieb nehmen.

Bei solch einer Gelegenheit schrieb im Frühjahr 1766 ein noch unbekannter 26jähriger Frankfurter Student an der Rietzschke in Reudnitz ein Briefgedicht, das wie folgt begann:

28. April 1766
Es ist mein einziges Vergnügen,
Wenn ich, entfernt von jedermann,
Am Bache, bei den Büschen liegen,
An meine Lieben denken kann.

Ausschnitt Stadtplan von 1802 mit dem "Rabeth"

Ausschnitt Stadtplan von 1802 mit dem „Rabeth“

Dieser junge Student hieß Johann Wolfgang Goethe.
Na, liebe Deutschlehrer der umliegenden Schulen, wer hätte das gedacht!

Vielleicht ist er zwischen Reudnitz und dem Schönefelder (rechten) Rietzschke-Ufer am „Rabeth“ auch mal den Poetenweg entlang gebummelt.

Der ,,Kuchengarten“ in Reudnitz, südlich der Kohlgärten, wurde in jener Zeit zu einem bekannten Ausflugslokal. Seit dem Jahr 1765 war dieses Lokal über mehrere Generationen im Besitz der Familie Händel, nahezu berühmt für die Kuchenbäckerei.
Der bereits genannte Student Goethe war hier auch oft zu Gast und hat dem Kuchenbäcker Händel in seiner späteren ,,Dichtung und Wahrheit“ (2. Teil, Ende des Siebenten Buches) ein Denkmal gesetzt:

,, … und zu lustiger Stunde, da wir in den Kohlgärten den trefflichsten Kuchen verzehrten, fiel mir aufeinmal ein, jene Kraft- und Machtworte in ein Gedicht an den Kuchenbäcker Händel zu versammeln.
Gedacht, getan! Und so stehe es denn auch hier, wie es an eine Wand des Hauses mit Bleistift angeschrieben wurde:
O Händel, dessen Ruhm von Süd zum Norden reicht,
Vernimm den Päan, der zu deinen Ohren steigt!
Du bäckst, was Gallier und Briten emsig suchen:
Mit schöpfrischem Genie originelle Kuchen.
Des Kaffees Ozean, der sich vor dir ergießt,
Ist süßer als der Saft, der von Hymettus fließt.

Dein Wohl ist unser Stolz, dein Leiden unser Schmerz,
Und Händels Tempel ist der Musensöhne Herz.
Dieses Gedicht stand lange Zeit unter so vielen anderen, welche die Wände jener Zimmer verunzierten, ohne bemerkt zu werden,und wir, die wir uns genugsam daran ergötzt hatten, vergaßen es ganz und gar über den Dingen.“

An die Inschrift und die Gaststätte erinnern heute nur noch der unscheinbare Straßenname … und vielleicht auch bald der eine oder andere Lehrer?

Hist-53Einen weiteren bekannten und berühmten Gast beherbergte Reudnitz im Jahr 1813 an den Kohlgärten. Diesem gingen aber zu der Zeit kaum poetische und friedliche Gedanken über die nähere Leipziger Umgebung, sondern vor allem deren strategischer Wert durch den Kopf. Es war der französische Kaiser und Feldherr Napoleon Bonaparte. Er richtete vom 14. bis 18. Oktober, in den Tagen der Völkerschlacht, sein Hauptquartier im günstig gelegen Reudnitzer Landhaus des Leipziger Bankiers Vetter ein.
Auch Marschall Ney bezog in Reudnitz Quartier. Über Marschall Ney und das Geschehen auf den nordöstlichen Kampfplätzen wurde ja bereits im NM-Journal Nr.26 berichtet.
Wie auch dort zu entnehmen ist, nutzte die französische Armee bei Ihrem Rückzug zeitweise auch das Rietzschketal als natürliche Verteidigungslinie. Am 19. Oktober stürmten die Einheiten des preußischen Generals Bülow diese Linie. Die Kohlgärten waren verwüstet.
Nach der Völkerschlacht zogen im Leipziger Umland zum Glück bald wieder friedliche Zeiten ein. Die zerstörte Umgebung wurde wieder aufgebaut.

Mit einsetzender Industrialisierung wurden auch die Felder nördlich der Rietzschke für die Bebauung freigegeben. Diese Schönefelder Feldflur trug die alte Bezeichnung ,,Rabet“, heute noch als Straßenname in Volkmarsdorf und Neuschönefeld erhalten. Ab den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden dort Gewerbe- und Wohngebäude errichtet. Über die Rietzschke wurde 1837, im Zuge der ersten Trasse der Leipzig-Dresdner Eisenbahnlinie, etwa in Höhe des heutigen Hauses Eisenbahnstraße 5, eine Brücke errichtet.

Kartenausschnitt der Umgebung von Leipzig, 1883

Kartenausschnitt der Umgebung von Leipzig, 1883

Bis in die achtziger Jahre engte die zunehmende städtische Bebauung den Rietzschkeverlauf immer mehr ein.
Wie ein Kartenausschnitt von 1883 zeigt, war sie damals gerade noch auszumachen.

In den folgenden Jahren wurde die Rietzschke nach und nach überwölbt und überbaut. In alten Akten der Schönefelder Gemeinderatssitzungen, der Königlichen Amtshauptmannschaft Leipzig und regionalen Zeitungsmitteilungen kann man viel darüber nachlesen.
Ein Situationsplan, im Leipziger Stadtarchiv unter RRA 5750 b zu finden, zeigt den Rietzschkeverlauf bei der Unterquerung der Eisenbahnstraße und die heute noch erhaltenen Schleusenanlagen aus dem Jahr 1885 (!).

In der „Leipziger Vorstadt-Zeitung“ erschien am 16. April 1887 der folgende interessante Artikel unter der Überschrift
,,Wo ist die Rietzschke?“

,,Wenn man die blonde Tochter unseres östlichen Hügellandes innerhalb der Gemüsefelder der Güldenen Aue so reinlich dahinplätschern sieht, sollte man es gar nicht für möglich halten, daß sie so bald aus Gram über ihren Schmutz grau werden würde. Zum Glück entzieht uns die Baulust in den östlichen Vororten mehr und mehr ihren empörenden Anblick. Daß sie nicht einmal zum Feuerlöschen ausreicht, davon hat man sich im Laufe des verflossenen Winters bei einem Fabrikbrand in dortiger Gegend (Konstantinstraße) überzeugen können.
Von der Konstantinstraße bis zur Gustav-Harkort-Straße zeigt sie sich zwischen den industriellen
Etablissements in ihrer vollen Scheußlichkeit. Bei der Verbreiterung der Eisenbahn-straße kamen voriges Jahr die Eingeweide der Rietzschke noch einmal zum Vorscheine, glücklicherweise zum letzten MaL Altere Leser werden sich wohl noch erinnern, wie der schwarze Unrat, offen und frei in der Sonne verdunstend, unter dem Dresdner Bahnkörper dahinfloß.“

In einem Zeitungsartikel heißt es im Jahr 1889:

,,… (es) wird die Rietzschke, von der Rathausstraße bis zur Schule überwölbt. Frei ist dieser übelriechende Wassergraben nur noch von der Constantin- bis zur Gustav-Harkort-Straße.“

Zur Erläuterung:

    • Gustav-Harkort-Straße – heute Jonasstraße,
    • Rathausstraße – heute Reclamstraße,
    • Schule – heute Teil der berufsbildenden Schule Neustädter Str. 1, damals Volksschule
    • Im ,,Reudnitzer Tageblatt“, hier am Rande noch zu erwähnen, erschien in der Beilage am 1. April 1884 die Heimatsage ,,Das Gespenst an der Rietzschke“.
    • … und als Nachtrag aus dem Jahr 2014, auch die Straßenbezeichnung „An der Rietzschke“ gibt es leider nicht mehr – diese kurze Straße wurde inzwischen in Marcusgasse umgenannt.

Irgendwann in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts was es dann soweit: die Rietzschke war in den Gebieten zwischen Sellerhausen, Volkmarsdorf, Reudnitz, Neuschönefeld und Neustadt vollständig überwölbt und damit verschwunden.
Ja und nun? Hat die Rietzschke im Stadtgebiet noch eine Chance? Etwa unter dem Motto: Die Rietzschke an’s Licht? Diese Fragen haben zwei Seiten – erstens: wo fließt denn überhaupt noch was, und zweitens: wer bezahlt eine millionenschwere Teiloffenlegung?

[Leipzig im Juli 1995, H. Stein]

3 Gedanken zu “… über die Rietzschke, Kohl, Goethe und Napoleon

  1. Hallo Herr Stein,
    ein wirklich interessanter Beitrag, wie der gesamte Blog wirklich lesenswert ist!
    Allerding wrde ich gern eine kleine Korrektur anbringen: Auf der zweiten hier gezeigten karte „Leipziger Umgebung im 11./12. Jahrhundert“ steht bei Portitz die Jahreszahl 1012 als Jahr der Ersterwähnung. Das stimmt so leider nicht, eine erste urkundliche Erwähnung ist schon von 974 bekannt. 🙂

    ich freue mich schon auf weitere interessante Beiträge!

    Mit vielen Grüßen
    Felix F.

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    • Kleine Erwiderung: in der Literatur wird die Jahreszahl 974 in Klammern gesetzt, das heißt diese Angabe ist nicht gesichert und danach habe ich mich gerichtet. Falls die Jahreszahl einen neuen Status erhält, dann werde ich aktiv. Ein veranstaltetes Ortsjubiläum ist für mich keine historische Bestätigung.

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  2. Pingback: Runkiplatz (1) | wortblende

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