Neuschönefeld ,,Sonst und Jetzt“

Geschichtsbetrachtungen
von Moritz Weißbach (1890) und Marina Geyer (1983)

Nsf_1980-06MelVon der kleinen ehemaligen Gemeinde von Neuschönefeld im Leipziger Osten ist nicht viel geblieben – Worte, Bilder, Erinnerungen gibt es nur noch wenige. Zur Ortsgeschichte liegen außer alten Gemeinde-Akten im Stadtarchiv Leipzig nur wenige Literatur-Quellen vor: darunter eine Geschichtsbetrachtung von Moritz Weißbach aus dem Jahr 1890 und eine bisher kaum bekannte, aber bemerkenswerte Diplomarbeit zum gleichen Thema von Marina Geyer aus dem Jahr 1983.
Das schauen wir uns jetzt mal etwas genauer an.

osm_nsf_2016+textVom alten Neuschönefeld bei Leipzig in seinen historischen Gemeindegrenzen (siehe Skizze rechts) sind nach den Flächenabrissen in den 1970er und 1990er Jahren heute nur noch 30 der ehemals etwa 240 Wohnhäuser übrig geblieben.

Hierzu ein paar Auszüge aus der
1. Geschichte der Gemeinde Neuschönefeld von Moritz Weißbach (bis 1890)

Seite 1, über die ersten Häuser : Neuschönefeld existirt seit dem Jahr 1838, allwo der Zimmermeister Wolfgang Schlauchershoch in Volkmarsdorf sich einen Bauplatz kaufte und sich einen Zimmerplatz anlegte. Im Jahr 1843 waren bereits 15 Häuser aufgebaut. Die damaligen Besitzer waren Harkort, Lampe, C. Richter, A. Richter … [Anmerkungen: siehe auch wikipedia Lampe, Harkort]

Seite 3, über die Gemeindegründung: Das Königliche Ministerium des Inneren hatte nach einer am 1. März 1845 an die Gerichte zu Schönefeld erlassenen Verordnung genehmigt, daß die sogenannte Colonie Eberstein unter dem Namen ,,Neuschönefeld“ eine eigene Gemeinde bilde und zwar nicht allein für die Besitzer der Lampeschen Parcellen, sondern auch für die übrigen Grundstücksbesitzer in der Colonie Eberstein.
und über die Wahl des Gemeinderates: … am 21. April 1845 Nachmittags 3 Uhr im Gemeindehause. Hierauf wurde sofort zur Abstimmung verschritten, d. h. jeder der Anwesenden sagte dem anwesenden, die Wahl leitenden Gerichtsdirector Dr.  Pillwitz die Namen leise ins Ohr, die er gewählt haben wollte … Nach geschehener Abstimmung ergab sich, daß Adolf Richter zum Gemeindevorstand und Carl Richter zum Gemeindeältesten erwählt waren. [und dazu auf Seite 69: … Beschluß gefaßt, … diese Aemter als Ehrenämter und deshalb unentgeltlich zu verwalten seien.]

Seite 6 und 7, zur Bevölkerung und zum Bauwesen: Im Jahre 1863 war der Ort schon ziemlich ausgebaut und man hat nur hie und da noch einige Hausgrundstücke auf Plätzen, die man sich erst als Gärtchen reservirt hatte, herstellen lassen können. … Bis zum Jahr 1866 war im Zuwachs [der Einwohnerzahl] Stillstand eingetreten.
[Anmerkung: deshalb entstanden ja auch im Jahr 1865/66 die ersten Häuser auf einzelnen Feldparzellen der Schönefelder Flur Nr. 181 – dem späteren Neustädter Gebiet.]

Seite 19, zur Viehzucht: Viehzucht existirt in unserem Orte gar nicht. Kein einziges Rind hat Neuschönefeld aufzuweisen. Schweine werden nur ganz vereinzelt gehalten und man glaubt, dass die Zahl 10 nicht erreicht wird.
[Anmerkung: aus eigenem Erleben – auch im Jahr 1975 wurden zwischen der Melchior- und der Thümmelstraße noch Schweine gehalten und das nur 5 Minuten vom Stadtzentrum entfernt!]

le_nsf-01Nachbetrachtungen:
#1 ab dem Jahr 1878 bis zur Eingemeindung von Neuschönefeld zur Stadt Leipzig im Jahr 1890 war  Moritz Weißbach dort Gemeinderatsvorstand: Vergleichungen über Sonst und Jetzt lieferten in unserem Neuschönefeld jederzeit erfreuliche Bilder; mögen letztere auch künftig ohne dunkle Schatten bleiben.
#2 natürlich hat Moritz Weißbach die Geschichtsbetrachtung aus seiner speziellen Sicht als Gemeinderatsvorstand zusammengestellt und aufgeschrieben – aus meiner Sicht ein sehr guter Zeitzeuge! Rechtschreibung und Grammatik habe ich bei den eingefügten Zitaten original aus dem Buch (von 1890) übernommen.
#3 nach dem Bau der Schankgastwirtschaft ,,Zum Bergschlößchen“ wurde der neu angebaute Saal ab 1851 bis zum Jahr 1890 häufig für  Gemeinderats-Veranstaltungen genutzt.

2. Entwicklung der Gemeinde Neuschönefeld (1845 bis 1890), Diplomarbeit von Marina Geyer

Seite 1, Einleitung: Anders, als in der bürgerlichen Geschichtsbetrachtung, wendet sich insbesondere die marxistische Regionalgeschichtsforschung seit ca. 25 Jahren, dem weniger attraktiven gesellschaftlichen Leben und Treiben vor den Mauern und Toren der Großstädte zu. [siehe dazu Nachbetrachtung #2]

und weiter auf Seite 3, persönlicher Bezug: Die Ausführungen zum derzeitigen Bauzustand in Neuschönefeld basieren auf eigenem Erleben und Nachempfinden. Das völlige Fehlen von Bebauungsplänen und zu große Schwierigkeiten bei der beabsichtigten Einsichtnahme in Grundstücksbücher und Bauakten des Katasteramtes zu Leipzig erschwerten die genaue historische Einordung der Entstehungszeit verschiedener Bauten.

M.Geyer_83_01Seite 23, zur archtektonischen Gestaltung: Dieses Bild zeigt Gebäude in der Eisenbahnstraße [im Originaltext der DA werden die ehemaligen Straßennamen verwendet], Ecke Philippstraße, die ebenfalls der ersten Bauphase in Neuschönefeld zuzuordnen sind. Die Fassadengestaltung ist erst im späteren Verlauf vereinfacht worden. Das mittlere Haus läßt noch spärliche Reste einer Fensterumrahmung und Fensterbekrönung erkennen. Das Gebäude am rechten Bildrand [ist] heute nur noch gewerblich genutzt.

M.Geyer_83_Rabet15Seite 48, zu Bebauungs-Sonderfällen, z.B. Haus Rabet Nr. 15 (gehörte zu Volkmarsdorf, Anfang der 1980er Jahre abgerissen): Diese bautechnische Lösung spricht ganz besonders für den Einfallsreichtum sächsischer Architekten. Da das sächsische Baurecht von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Gestaltung von Fensterfronten bei der Grenzbebauung verbot, bzw. es von der Zustimmung des Grundstücksnachbarn abhängig machte, fand man diese Lösung. Dieser Lichthof spendet vierfaches Lich. Die größten Fenster in der Mitte beleuchten den Flur der Wohnungen. Das rechte, kleinere Fenster gehört evt. der ehemaligen Gesindekammer an. Links gestattete diese Anordnung sowohl einen Lichteinfall in die Küche, als auch in die Toilette. Falls sich später das [der Verfasser: Neuschönefelder] Nachbargrundstück nahtlos angeschlossen hätte, so wäre die Öffnung des Lichtschachtes nach oben möglich gewesen.

und weiter auf Seite 75, Markthalle, Ernst-Thälmann-Str. 74: Nachfolgende Bilder zeigen die Markthalle im Hofgelände zwischen Eisenbahnstraße und Sophienstraße. Dieser Bautyp wurde in Deutschland bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts angewandt. Besonders hervorzuheben ist die Verwendung von weißen glasierten Backsteinen zu Fassadengestaltung der später als Kino genutzten Markthalle. Auf der rechten Seite der Rückfront der Markthalle sind im nachhinein zugemauerte Öffnungen ehemaliger Verkaufsstände zu erkennen. Diese architektonische Lösung ermöglichte einen gleichzeitigen Verkauf der Waren an innerhalb und außerhalb der Halle stehende Kunden. Außerdem ließ diese Lösung breiteren Raum für die Sichtwerbung.

M.Geyer_83_Markthalle M.Geyer_83_MarkthalleH

Seite 86, Zusammenfassung: Zur Geschichte des Gebietes der Gemeinde Neuschönefeld existieren keinerlei Vorarbeiten, die den Ansprüchen moderner Regionalgeschichtsforschung gerecht werden können. [siehe dazu Nachbetrachtung #2]

und weiter auf Seite 90, persönliche Meinung: Wenn in dieser Arbeit verschiedentlich eine Lanze für die Neuschönefelder Wohnbedingungen gebrochen wurde, dann nur im historischen Kontex der Entstehung dieses Arbeiterwohnviertels. Für heutige, moderne Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten liegen die Neuschönefelder Wohnbedingungen zum Teil stark unter dem städtischen Niveau. Und sicher ist es keine gute oder elegante Variante, diese Häuser ,,aussterben“ zu lassen, bedürfen doch eigentlich doch gerade unsere Veteranen der besseren Zuwendung und Fürsorge … und haben diese Menschen m. E. ein besonderes Anrecht auf die Gestaltung ihres Lebensabend in einer menschenwürdigen, sauberen und sicheren Umgebung. [der Verfasser: BRAVO!]

Nachbetrachtung:
#1 zur Erstellung dieser Diplomarbeit wurden eine große Anzahl alter Karten und Pläne aus dem Ratsrißarchiv und eine Vielzahl alter Gemeinde-Acten aus dem Stadtarchiv Leipzig verwendet. Dadurch erhält man einen sehr guten Überblick, was heute noch so an alten Unterlagen zur Verfügung steht. Ein großes DANKE an Marina Geyer!
#2 als Betreuer der Diplomarbeit von Marina Geyer im Jahr 1983 fungierte Prof. Karl Czok. Zu seiner Person nur soviel: er galt speziell in Bezug auf die (SED-)Parteidoktrin der marxistischen Regionalgeschichtsforschung als nicht immer linientreu. Sein Chef Max Steinmetz, Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte an der Karl Marx-Universität Leipzig postulierte, dass alle [marxistische] Regionalgeschichtsforschung auf der unverrückbaren Grundlage des historischen Materialismus erfolgen [muss]. Da hatten demnach systemfernere Autodidakten, die weder in der Partei (SED) Mitglied, noch Arbeiterveteranen waren (wie ich) nichts zu suchen! Das war auch eine der Ursachen, dass ich mitunter große Schwierigkeiten hatte im Stadtarchiv oder in der Deutschen Bücherei regionalgeschichtliches Quellenstudium zu betreiben …


Quellenangaben:
Gemeindevorsteher Moritz Weißbach: Geschichte der Gemeinde Neuschönefeld ihrer Entstehung und Entwicklung bis zu ihrem Anschlusse an die Stadt Leipzig am 1. Januar 1890. Im Eigenverlag erschienen 1890. Heute im online-Bestand der SLUB (Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden).
Diplomarbeit Marina Geyer: Die Entwicklung der Gemeinde Neuschönefeld von ihrer Gründung im Jahre 1845 bis zur Eingemeindung 1890, KMU Leipzig, Sektion Geschichte, 22.07.1983 (Betreuer Prof. Karl Czok). Ein Exemplar befindet sich unter der Inventar-Nr. IP 350 im Bestand der Bibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig.

Anmerkung vom Verfasser:
Falls Marina [Geyer] diesen Beitrag lesen sollte, oder jemand Auskunft über sie geben kann, dann bitte bei mir melden.

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